Den Impulsvortrag zum zweiten Panel des Tages hielt Dr. Stefan Knupfer, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Plus. „Wenn es um Digitalisierung geht, stellen wir ganz sicher nicht mehr die Benchmark in Europa und auf der Welt dar“, lautete sein kritisches Eingangsstatement, „sondern hinken mächtig hinterher.“ Aus der Krankenkassenperspektive sei die zentrale Herausforderung, die Prozesse aus Sicht der Versicherten zu denken und zu respektieren. Das E-Rezept sei zwar ein wesentlicher, aber nicht der alleinige Bestandteil der anstehenden Entwicklung.
Angesichts von 800 Millionen Verordnungen pro Jahr im deutschen Gesundheitswesen, so Knupfer, hoffe er deshalb, dass das E-Rezept künftig ein Schlüssel zur zunehmenden Digitalisierung werden könne. Deshalb müsste man sich die Frage stellen, welche weiteren Perspektiven mit dem E-Rezept möglich wären. „Die Krankenkassen entwickeln zunehmend digitale Produkte“, erklärte Knupfer, im Fall der AOK Plus beispielsweise die Gesundheitsassistentin Navida, einen vorgeschalteten Symptomchecker, der intelligente Maßnahmen wie etwa eine Videosprechstunde folgen lässt. Die anschließende Ausstellung eines E-Rezepts wäre eine konsequente Fortsetzung der digitalen Vernetzung. „Das ist das Denken in Kundenreisen“, erklärte Dr. Knupfer, „und nicht nur die isolierte Betrachtung auf das Rezept an sich.“
Mit einem Beispiel verdeutlichte der stellvertretende Vorsitzende der AOK Plus, warum es wichtig ist, digitale Themen mit den Versicherten gemeinschaftlich zu erschließen. So bekämen insulinpflichtige Diabetiker nicht nur Arzneimittelrezepte, sondern in der Regel auch Hilfsmittelrezepte, beispielsweise für die Lanzetten. Es leuchte unmittelbar ein, dass es aus der Nutzerperspektive wünschenswert sei, neben den Arzneimitteln auch die Hilfsmittel über eine elektronische Verschreibung zu beziehen. „Wir sollten solche bestehenden Barrieren schnell überwinden“, appellierte Dr. Knupfer, „und im Gesundheitswesen in einem konstruktiven Dialog bleiben, was denn das Beste für die Menschen ist.“
„Game Changer im Gesundheitswesen“
Im zweiten Panel des Tages diskutierten Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Bereichen des Gesundheitswesens über das Thema „Das E-Rezept weitergedacht“. Moderator Ralf König, Vorstand des in Gründung befindlichen Vereins „E-Rezept-Enthusiasten e.V.“ freute sich besonders, dass sich mehr als 400 Apothekenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter für die Teilnahme am 3. E-Rezept Summit angemeldet haben. Ein wichtiges Zeichen, dass auch bei den Leistungserbringenden das Interesse am E-Rezept wachse, das König einmal mehr als „Game Changer im Gesundheitswesen“ bezeichnete. Es gehe nun darum, herauszufinden, welche Attribute diesen Anspruch tatsächlich rechtfertigten.
Für Stefan Feltens, von Moderator König als „einer der Gewinner des E-Rezepts“ vorgestellt, gibt es da wenig Zweifel. „Der Game Changer ist, dass das E-Rezept ein Katalysator für die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens sein wird“, erklärte der CEO von Shop Apotheke. Das E-Rezept existiere bereits in 24 Ländern der Europäischen Union in der einen oder anderen Form. „Hoffentlich kommt Deutschland jetzt bald als 25. Land hinzu“, so Feltens. Den wesentlichen Nutzen des E-Rezepts sieht Feltens unter zwei Aspekten: Effektivität und Effizienz. „Es werden ja tatsächlich Menschenleben gerettet werden“, erwartet Feltens, weil auch tödliche Medikamentenwechselwirkungen erkannt und vermieden werden können.“ Es werde daher zu sehr viel weniger Krankenhauseinweisungen kommen. Zusätzlich werde es massive Effizienzgewinne geben, die angesichts knapper werdender Geldtöpfe immer mehr gefragt seien. „Wir bewegen heute in Deutschland über 600 Millionen Papierrezepte, die alle bearbeitet werden müssen“, erklärte der Apotheken-Geschäftsführer, „das wird zukünftig sehr viel effizienter werden.“ Auch im Gesundheitswesen werde der Kostendruck steigen.
Eine Studie des Beratungsunternehmens McKinsey habe das jährliche Einsparpotenzial durch die Digitalisierung im Gesundheitswesen auf über 40 Milliarden Euro beziffert, berichtete Kai Swoboda, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der IKK classic. Nach diesen Berechnungen falle zunächst nur ein Milliarde Euro auf das E-Rezept. Diese Ersparnis komme fast ausschließlich aus der geringeren Zahl von Einweisungen in Krankenhäuser durch Vermeidung von schwerwiegenden Wechselwirkungen. „Das ganze Thema Effizienz, die Verschlankung der Abläufe, der Wegfall von Papier sind bei den Berechnungen noch nicht enthalten“, erklärte Swoboda. „Das ist sicherlich ein weiterer Einsparungsfaktor.“
Carmen Brünig, Leiterin Branchenspezialisierung Apotheken bei der Steuerberatungsgesellschaft ETL Advision, beleuchtete – wie schon in ihrem vorangehenden Impulsvortrag – in der zweiten Panelrunde das Veränderungspotenzial des E-Rezepts aus betriebswirtschaftlicher Sicht. Das höhere Tempo bei der Abrechnung sei dabei ein wesentlicher Punkt. Es erlaube den Apothekerinnen und Apothekern, die Liquidität viel besser zu gestalten und dadurch die Kontrolle über die Prozesse zu behalten.
Britta Marquardt, Mitglied der Geschäftsführung beim Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e. V. (BPI), rückte die eigentliche Aufgabe des E-Rezepts in den Mittelpunkt: Die Menschen müssten zeitnah, sicher und an Ort und Stelle mit Arzneimitteln versorgt werden. „Es geht nicht um Belieferung, es geht tatsächlich um Versorgung“, erklärte sie, „und das umfasst auch Beratung und Information.“
Für die pharmazeutische Industrie seien drei Aspekte bei der Digitalisierung besonders wichtig, so Marquardt: Erstens müsse die Versorgung nicht nur im städtischen, sondern auch im ländlichen Raum vollständig sichergestellt sein. Zweitens müsse nicht nur das Muster 16, sondern auch das sogenannte grüne Rezept für apothekenpflichtige und nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel als E-Rezept schnell und unkompliziert umgesetzt werden. Und drittens müssten sich die Leistungserbringenden darüber im Klaren sein, dass sich bei ihnen allen die Abläufe ändern werden. „Auch für die Mitglieder meines Verbandes werden sich Neuerungen ergeben“, erklärte Britta Marquardt, „dabei darf der Patient nicht hintenüberfallen.“
Die vielfältigen Veränderungen durch das E-Rezept bestätigte auch Se Ung Kim von AOK Systems. „Wir wollen die Chance nutzen“, so der Innovationsmanager, „durch die durchgängige Digitalisierung, durch digitale Formate, Robotik, und Automatisierung, die Prozesse zu verschlanken.“ So könnten beispielsweise die Plausibilität und die fachliche Prüfung zu den Apothekern verlagert werden, damit mögliche Fehler direkt und nicht später durch eine umständliche Reaktivierung korrigiert würden.
Zum ersten Mal stünden in Echtzeit gesundheitsbezogene Daten zur Verfügung, die beispielsweise Krankenkassen für ihre Disease Management Programme nutzen könnten. „Jetzt ist doch ein wunderbarer Zeitpunkt gekommen“, meinte Kim, „an dem man diese DMP im Rahmen der neuen digitalen Möglichkeiten noch einmal auf den Prüfstand stellt. Jetzt können wir tatsächlich in das Digitalzeitalter einsteigen.“
Direkte Auswirkungen wie einfachere Prozesse und schlankere Abläufe für Versicherte und Krankenkassen erwartete auch Kai Swoboda. Aber „wirklich spannend“ sei das Ganze erst, wenn das E-Rezept in den Rest der Telematik-Infrastruktur eingebunden sei. „Die wesentlichen Stichworte dazu“, ergänzte Swoboda, „sind Vernetzung zur Optimierung der Versorgung, und das Ganze mit Echtzeitdaten. Das haben wir heutzutage noch in keinster Weise.“
Andere Branchen, wie beispielsweise die Reisebranche, seien in diesem Bereich schon bedeutend weiter. Verordnungsdaten, die praktisch in Echtzeit zur Verfügung stünden, könnten Krankenkassen helfen, ein besseres Versorgungsmanagement anzubieten. So könnten durch Empfehlung von Präventionsangeboten manche Krankheiten möglicherweise erst gar nicht entstehen oder Therapien von Krankheiten könnten beschleunigt werden. „Gesundheitsdaten zur Optimierung der Versorgung zu nutzen, das ist für mich der Game Changer“, so Kai Swoboda, „selbstverständlich unter Einhaltung des Datenschutzes.“
Swoboda kam noch einmal auf die bereits erwähnte McKinsey-Studie, die Einsparungspotenzial in Höhe von über 40 Milliarden Euro durch die Digitalisierung ermittelt hatte. Seines Wissens sei ebenfalls nicht mit einberechnet, „dass es insgesamt weniger Krankheiten geben wird, wenn die Behandlungen besser, schneller, effektiver verlaufen.“ Noch immer würden heute viel zu viele Menschen schwer erkranken, was man verhindern könnte, indem man die Daten besser nutzen würde.
Moderator Ralf König verwies bei der Datendiskussion auf das Beispiel Israel. Krankenkassen hätten dort bereits seit 25 Jahren die komplette Medikation und Krankheitsdaten ihrer Versicherten digital vorliegen. So konnte Israel beim Thema Covid-Impfungen sehr schnell reagieren und die Forschung in diesem Bereich rasch aufnehmen. „Um diese Daten aufzuholen, dauert es einfach weitere 25 Jahre in Deutschland“, stellte König fest, „umso wichtiger, dass wir jetzt endlich mit der Digitalisierung beginnen.“
Frank Böhme, Gründer und CEO von scanacs, wurde von Moderator König als „ein Vorreiter in Sachen Digitalisierung im Gesundheitswesen“ vorgestellt. Böhme berichtete über seine Erfahrungen bei der Erprobung und Einführung des E-Rezepts in den vergangenen Monaten und gab einen Ausblick auf die künftigen Herausforderungen. „Wir befinden uns mitten in der Transformation eines der aufwendigsten Verwaltungsprozesse im deutschen Gesundheitswesen“ stellte Böhme fest. scanacs habe jahrelang auf das Ziel hingearbeitet, den Gesamtprozess zu beschleunigen und durch die Direktabrechnung Sicherheit zu gewährleisten „und zwar nicht nur auf Apotheken-, sondern auch auf Krankenkassenseite“.
In den vergangenen zwölf Monaten, habe man bei scanacs beobachtet, sei in der Branche das Interesse stetig gewachsen, ebenso das Bewusstsein, „dass das E-Rezept nicht nur eine Änderung des Aggregatzustandes bewirkt, sondern sich auf alle Prozesse auswirkt“. So brächte die Direktabrechnung beispielsweise eine erhöhte Sicherheit für Apothekenbei der Abgabe hochpreisiger Medikamente, die dadurch nicht mehr spätere Rechnungskürzungen befürchten müssten. „Sie können jetzt voll elektronisch abrechnen und sofort eine Erstattung erhalten“, erläuterte Böhme, „das hat auch unmittelbare Auswirkungen auf die Liquidität.“
Gerade bei den Retaxationen sah Böhme „großes Potenzial.“ Es gehe aber nicht allein um die Retaxation, es gehe um Zeitersparnis. „Wie viel Zeit können wir einsparen“, so Böhme, „indem wir die Verwaltungsprozesse so verschlanken, dass die Patientinnen und Patienten am Ende davon einen Nutzen haben? Das ist das Entscheidende.“
Als Ausblick auf die Zukunft verwies Frank Böhme auf das Beispiel Schweden. Dort würden heute nur noch drei Prozent aller ärztlichen Verordnungen über Papierbelege abgerechnet, praktisch also nur noch in Notfallszenarien oder für den seltenen Fall, dass jemand kein Handy besitze. „Die Frage ist deshalb: wer von den Apothekenrechenzentren bleibt?“, so Böhme.
Auf die Frage von König, was denn in den kommenden zwölf Monaten zu erwarten sei, antwortete Böhme: „Wir haben in den vergangenen Monaten die ersten E-Rezepte abgerechnet“, berichtete Frank Böhme, „und zwar funktioniert das nicht nur mit Krankenkassen, sondern auch mit dem Notdienstfonds und den Herstellerrabatten. D.h. die Direktabrechnung von E-Rezepten wird vollautomatisch laufen, da bin ich sicher.“
Wolfgang Rogalski, Business Manager beim IT-Dienstleister BITMARCK äußerte die Erwartung, das E-Rezept und E-PA künftig gemeinsam ihre Wirkung entfalten und für die Patientinnen und Patienten damit eine deutliche Vereinfachung im Handling bedeuten könnten. BITMARCK sei bereits jetzt in der Lage, mit der Identität der E-PA auch die E-Rezept-App zu nutzen. Die gematik sei mittlerweile dabei, die entsprechenden Anforderungen zu spezifizieren, sodass eine flächendeckende Integration möglich scheine.
Moderator König griff diesen Gedanken auf und verwies darauf, dass die Verordnungen auf dem E-Rezept beim sogenannten Fachdienst der gematik für 100 Tage verpflichtend gespeichert werden müssen. „Ein großer Nutzen, den wir früher nicht hatten“, lobte König, „diese Daten können dann wahrscheinlich ab 2024 in die E-PA überführt oder vorher schon in der gematik angezeigt werden.“ Auf diesen Wegen könnten die Daten auf Wunsch des Patienten dann auch den behandelnden Ärzten und den Apotheken zur Verfügung gestellt werden. „Das Entscheidende ist, dass wir hier die tatsächlich verabreichten Medikationen der letzten 100 Tage auflisten“, erklärte König. Das könne bei der Erstbehandlung durch einen Arzt, bei der Behandlung im Krankenhaus eine wichtige Informationsbasis sein.
Auch bei der pharmazeutischen Industrie ist das Interesse an derartigen Daten gewaltig. Vertiefte Informationen seien nicht nur für die Erforschung von Arzneimitteln von großer Bedeutung, so Britta Marquardt vom BPI, sondern auch bei der Begleitung von Patientinnen und Patienten im Rahmen der Pharmacovigilanz, immer unter der Priorität des Schutzes der Daten. In Zukunft könnten auch Daten aus digitalen Gesundheitsanwendungen generiert werden, die wiederum in die E-PA einfließen würden und dann mit Arzneimittel- und Medizinproduktedaten kompatibel wären. „Das alles ist eine sehr, sehr große Chance“, urteilte Britta Marquardt.
Für die Apotheken könnten sich ebenfalls neue Chancen ergeben, erklärte Stefan Feltens von Shop Apotheke. Im digitalen Raum könnten sie Zusatzdienstleistungen anbieten, die für die Patientinnen und Patienten Vorteile bringen. Feltens führte Medikationsmanagement, Disease Management Programme und DIGAs an. Durch die heute noch bestehenden „Medienbrüche“ würden solche Angebote für die Versandapotheken, aber auch für die Vor-Ort-Apotheken noch erschwert. „Das wird zukünftig viel fließender, viel einfacher werden“, so Feltens, „da wird das E-Rezept sehr viel bewegen können.“
Frank Böhme von scanacs darauf hin, dass die Verordnungsinformationen durch die bisherigen Abrechnungen bei den Krankenkassen gar nicht ankämen, daher stünden sie auch für die Forschung nicht zur Verfügung. „Diese Lücke jetzt zu schließen“, so Böhme, „wäre für mich schon ein Fundament. Die Schwelle für den Zugang zu diesen Daten müsse gesenkt werden, um einen „Wissenswettbewerb“ im Bereich Medikationsmanagement ins Leben zu rufen, meinte Böhme, und er verwies dabei auf die europäische Dimension des Themas. „Die Daten müssen verfügbar sein, und sie müssen vergleichbar sein“, erklärte der scanacs-Geschäftsführer, „das sind die allernächsten Schritte, die wir aus meiner Sicht jetzt angehen müssen.“
Die Chance durch europäische Datenräume sollten unbedingt genutzt werden, ergänzte auch Kai Swoboda, IKK Classic. Erstmals werde durch die Digitalisierung „eine ganzheitliche Sicht auf die Versicherten“ ermöglicht, „sodass es uns als Krankenkasse gelingen kann, proaktiv ein Versorgungsmanagement und Hinweise für mögliche Teilnahme an Disease Management Programmen anzubieten.“ Allerdings stünde Deutschland noch „am Anfang eines langen Weges“, mahnte Swoboda, „um überhaupt erst mal die Daten, die schon lange zur Verfügung stehen, zusammenzuführen und für eine verbesserte Versorgung zu nutzen.“
„Vielleicht noch der Nachsatz: Mehr Mut und weniger Angst“, schloss Moderator Ralf König das zweite Panel des Tages. Er freue sich darauf, „im nächsten Jahr tatsächlich die erfolgte Umsetzung des E-Rezepts zu feiern.“